Additive Fertigung in der Medizin

Additive Fertigung in der Medizin

Die Wirtschaftlichkeit der additiven Fertigung im Medizinbereich: Ein Interview mit Altair Chief Engineer Dave Coates

Wie identifiziere ich ein bestimmtes Bauteil als Kandidaten für die additive Fertigung?

Coates:
Unternehmen, die sich für additive Fertigung interessieren, sollten Zeit in die strategische Auswahl der passenden Komponenten investieren. Die additive Fertigung bietet eine konkurrenzfähige Alternative zu anderen Herstellungsverfahren, vor allem für Unternehmen mit geringem Volumen, für hochpreisige Komponenten oder für Bauteile, deren Individualisierung einen Wettbewerbsvorteil bietet.

Einige der besten Ergebnisse wurden erzielt, wenn Kunden ein Auditverfahren durchführen und dabei Simulationssoftware, insbesondere Topologieoptimierung anwenden, um die Bauteilkandidaten zu evaluieren. Das hilft dabei, das Potenzial zur Gewichtsreduzierung zu ermitteln. Davon ausgehend beginnt der Redesign-Prozess. Nach einigen Durchläufen sammelt das beteiligte Team Erfahrung, um das Bauteil strategisch (und einfach) auszuwählen, indem es eine Kombination aus Simulation und wachsendem Know-how nutzt.

Ist Simulation nach der Auswahl der Kandidaten wichtig?

Coates:
Um die Herstellbarkeit zu untersuchen und das Verhalten von Bauteilen vorherzusagen, kann der Einsatz von Simulation viel Geld sparen, das bisher noch für Trial & Error Versuche ausgegeben wird. Im Durchschnitt kann der Einsatz von Simulation die Kosten bei Kleinserien-Bauteilen um 50 – 75 % reduzieren. Ich erinnere mich an einen Kunden, mit dem ich an dem Re-design eines Bauteils für die additive Fertigung gearbeitet habe, wo der Kunde die Kosten auf etwa 2.000 US $ geschätzt hatte, was sehr hoch erschien. Als wir fragten, warum es 2.000 US $ kosten soll, lautete die Antwort: „Nun, es kostet nur 500 US $, um ein Bauteil zu drucken, aber ich muss das wahrscheinlich drei, vier oder fünfmal tun, um die richtigen Parameter zu finden, mit denen ich ein qualitativ hochwertiges Bauteil liefern kann.“ Mit Simulation können solche Trial & Error Versuche reduziert oder sogar ganz vermieden werden, denn sie gibt Unternehmen die Möglichkeit, gleich beim ersten Mal das Richtige zu drucken.

Die Verfügbarkeit von modernen Werkzeugen ermöglicht es Konstrukteuren, unabhängig von den Fertigungsrandbedingungen, effizient zu konstruieren. Konstrukteure können durch die Methoden der Topologieoptimierung die am besten geeigneten Konstruktionen erforschen und sich dann für den Herstellungsprozess entscheiden, der das beste Kosten-Gewicht-Verhältnis bietet.

Bei Analyse denkt man oft an virtuelle Tests, aber in Ihrem Beispiel geht es vielmehr um die Beantwortung einer ökonomischen Frage. Können Sie etwas näher erläutern, wie Simulation die Kosten und die Entscheidungsfindung beeinflusst?

Coates:
Eine gute Frage, die es früh zu beantworten gilt, lautet: „Was ist die minimale Materialmenge, die erforderlich ist, um die Leistungsanforderungen zu erfüllen?“ Topologieoptimierung ist eine Art generatives Design, das die Erstellung eines optimalen Entwurfes ermöglicht, die dann an einem bestimmten Fertigungsprozess ausgerichtet wird. Diese optimale Konstruktion kann auf jeden beliebigen Herstellungsprozess ausgerichtet und verfeinert werden. Die Entwicklung von Komponenten auf Basis von Optimierungsergebnissen ermöglicht einen effizienten, kosteneffektiven und intelligenten Fertigungsprozess. Das schafft die Möglichkeit für ein leistungsfähigeres Bauteil, das in einem Prozess gefertigt wird, der das beste Kosten-Gewicht-Verhältnis bietet.

Simulation ist der Schlüssel, um die unzähligen Vorteile der additiven Fertigung auszuschöpfen. Sie ermöglicht es, verschiedene Konfigurationen und Anordnungen von Gitterstrukturen, die Verwendung verschiedener Materialien und sogar die Orientierung des Bauteils auf dem Druckbett zu untersuchen. So kann z. B. die Anzahl der während des Druckprozesses erforderlichen Stützstrukturen reduziert werden. Die Analyse und die Optimierung stellen sicher, dass man in punkto Kosten, Gewicht und Leistung das Bestmögliche aus dem Bauteil herausholt.

Mittels gründlicher Simulation wurde das unten abgebildete Hüftimplantat optimiert, so dass es im Vergleich mit einem üblichen Implantat 39 % weniger Gewicht und ein um 57 % geringeres Stress-Shielding aufweist. Das optimierte Design hat eine Lebensdauer von mehr als 10 Millionen Zyklen. Neben einer deutlichen Leistungssteigerung wurden im Konstruktionsprozess auch Druckbedingungen einbezogen, um die Herstellbarkeit bei einem Überhangwinkel von weniger als 45 Grad sicherzustellen.

Gibt es bei der additiven Fertigung in der Medizinbranche bestimmte Prozess- oder Herstellungsbedingungen, die sich von denen anderer Industriebereiche unterscheiden?

Coates:
Sicher. Jede Industrie und sogar jedes Produkt, das Sie konstruieren, hat seine eigenen Bedingungen und Herausforderungen. Dabei denkt man an Regularien der FDA (FDA = Food and Drug Administration, die US-amerikanische Behörde für Lebensmittel- und Arzneimittelsicherheit), welche die Entwicklung medizinischer Produkte prägen. Andere Branchen, wie die Luft- und Raumfahrt die FAA (Federal Aviation Administration/US-amerikanischen  Flugsicherheitsbehörde) haben behördliche Aufsichten, und die Automobilindustrie hat Vorgaben hinsichtlich Crash- und Emissionstests, aber in diesen Branchen wird das additive Verfahren häufig eingesetzt, um existierende Bauteile zu ersetzen, die diese Normen bereits erfüllen.

Im Medizinbereich werden in vielen Fällen völlig neue Lösungen entwickelt, bei denen es keine Richtlinien gibt. Daher ist es äußerst wichtig, die FDA Regelungen als initiale Konstruktionsvariablen zu verwenden, so dass man die Leistung durch die Analyse gründlich dokumentieren und validieren kann. Simulation stellt sicher, dass potentielle Probleme frühzeitig im Entwicklungszyklus erkannt und behoben werden, damit man darauf vertrauen kann, dass das Bauteil die Leistungsanforderungen erfüllt und die qualitätssichernden Untersuchungen der physikalischen Testphase besteht.

Was ist die eine Botschaft, die alle, die mit einem medizinischen Projekt in der additiven Fertigung starten, mit nach Hause nehmen und berücksichtigen sollten?

Coates:
Die additive Fertigung an sich ist keine Wunderwaffe. Das Fertigungsverfahren ist nur so gut wie die Konstruktion, die man dafür verwendet. Um den Nutzen für die Patienten so groß wie möglich zu gestalten und die Gesamtinvestitionen zu reduzieren, müssen Produkt-Entwicklung und Fertigung Hand in Hand arbeiten. Ich halte den Einsatz von Simulation und Optimierung für zwingend notwendig, um zu einem optimalen Bauteilentwurf für das gewählte Herstellungsverfahren zu gelangen. Ein intelligenter Ansatz für die Konstruktion, der die richtige Materialauswahl berücksichtigt, ist entscheidend, aber der vielleicht am meisten übersehene Aspekt bei der additiven Fertigung ist der Bauteilentwurf. Die Topologieoptimierung beschreibt genau die idealen Lastpfade zur Minimierung der Spannungsverteilung und gibt die Gewissheit, dass das Bauteil nicht nur leicht ist, sondern auch die Kriterien für Kosten, Lebensdauer und Leistung erfüllt. Indem man es dem Ingenieur ermöglicht, ein Bauteil oder System individuell auf einen speziellen Anwendungsfall anzupassen, maximiert man den Wert für den Patienten und gibt Herstellern einen klaren Wettbewerbsvorteil hinsichtlich Bauteilqualität und früher Marktreife.

Simulation in der Konstruktion und im Entwicklungsprozess hat auch einen starken Bezug zur Praxistauglichkeit. Man muss in der Lage sein, das, was man konstruiert, auch mit der erforderlichen Qualität und Konsistenz zu bauen. Indem man die Herstellung, die Kühlung, den Zuschnitt und das Rückfedern von Bauteilen simuliert, können Herstellungsprobleme vorhergesehen und gelöst werden, bevor sie auftreten. So entstehen Konstruktionen, die die wenigsten Stützstrukturen benötigen und optimal auf dem Druckbett orientiert sind. Iterationen mit Trial-and-Error Versuchen in der Prototypenphase sind absolut tödlich für die Bilanz, weshalb ich von einem „first time right“ Ansatz und einer simulations- und optimierungsgetriebenen Entwicklung fest überzeugt bin.

Wenn Sie die Vorteile der additiven Herstellung ganz ausschöpfen wollen, müssen Sie Simulation und Optimierung integrieren oder Sie riskieren es, Chancen zu verpassen.

Webinar-Tipp:

Wie Sie die Entwicklung medizinischer Geräte durch den Einsatz von Altair Lösungen beschleunigen und klinische Studien reduzieren können, erfahren Sie ab 14. September 2020 in der aktuellen Altair Webinarserie „Enhance Device Design and Reduce Clinical Trials Through Simulation“

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